Zuletzt aktualisiert: 21.06.2019
"Ich höre was, was Du nicht hörst": Tinnitus & Co. - Dr. med. Volker Kratzsch beantwortet häufige Fragen rund um das Symptom Tinnitus.
Chefarzt Abt. Hören, Tinnitus & Schwindel-Erkrankungen
Frau S. ist 56 Jahre alt, verheiratet, 2 Söhne (24 & 26 Jahre), leitet die Personalabteilung eines mittelständigen Unternehmens. Bei Nachfrage stellt sich heraus, dass Frau S. die einzige Mitarbeiterin im Bereich Personal ist, daneben aber noch für die Begleitung der Azubis, die Betreuung von Institutionen und aktuelle Projektaufgaben zuständig ist. Die Arbeit habe in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen, sie habe mehr Verantwortung übernehmen müssen, die versprochene personelle Unterstützung sei ausgeblieben. Als weiterer Belastungsfaktor muss Frau S. ihre Eltern bei vielen Tätigkeiten des Alltags (z. B. Einkaufen, Arzttermine) unterstützen.
Grund der Aufnahme in unsere Klinik ist ein Hörsturz vor 6 Monaten mit seither bestehender hochgradiger Innenohr-Schwerhörigkeit links und ein chronischer Tinnitus mit Geräuschempfindlichkeit. Die vom HNO-Arzt verordneten Infusionen und Tabletten hätten zu keiner spürbaren Besserung geführt, deshalb sei sie später nicht mehr zum Arzt gegangen. Krankgeschrieben war sie für 5 Tage, "mehr ging einfach nicht". Sie könne seither noch viel schlechter schlafen als vorher, liege häufig nachts wach, grübele über die Aufgaben des vergangenen und kommenden Tages oder habe Zukunftsängste. Für viele Interessen und Hobbies, auch die Pflege von Kontakten zu Freunden habe sie keine Kraft mehr, selbst ein Urlaub habe keine wirkliche Erholung gebracht.
Zugegeben, nicht jeder Patient in unserer Klinik hat so eine klassische Leidensvorgeschichte wie Frau S., aber eine Ausnahme ist diese Situation nicht. Wir würden uns wünschen, dass viele Betroffene - vielleicht auch die behandelnden Ärzte - die gesundheitliche Krise, die sich hier entwickelt hat, früher wahrnehmen würden und jemand einfach mal entschieden "STOPP" sagt. Meist wird dann die Diagnose eines Burnout gestellt. Die korrekte Diagnose wäre Erschöpfungsdepression, aber der Begriff Depression ist so negativ belegt wie die Bezeichnung Burnout reflexartig Verständnis hervorruft.
Wir sagen dann gern, Frau S. "hat viel um die Ohren, was zwischen den Ohren zu Tinnitus führt". Dahinter steht das Wissen, dass die Übersetzung des Begriffs Tinnitus als Ohrgeräusch schlichtweg unzutreffend ist: Als Tinnitus bezeichnet man ein Geräusch, das die Betroffenen wahrnehmen, welches aber nicht durch eine äußere Geräuschquelle hervorgerufen wird. Weil wir aber von Kind auf an die Erfahrung gemacht haben, dass alle Höreindrücke durch die Ohren von außen aufgenommen werden, spricht jeder von einem Ohrgeräusch. Dieser Eindruck, der Tinnitus entstände in den Ohren, ist aber falsch. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte entsteht Tinnitus im Bereich des Gehirns, wir werden später näher darauf eingehen.
In weiterer Konsequenz führt diese Fehleinschätzung aber dann auch dazu, dass Therapieansätze, die auf das Ohr gerichtet sind, vom Patienten als zielgerichtet und ursächlich angenommen werden. Unglücklicherweise bedienen diese Annahme auch viele im Internet kursierenden Therapien, die suggerieren Tinnitus könne so beseitigt werden. Dies führt meist zu nicht ganz preiswerten und völlig sinnlosen Bemühungen der Betroffenen, ihr Ohrgeräusch loszuwerden. Leider ist die Folge eine Art Teufelskreis der Frustration, verbunden mit erhöhtem Leidensdruck. Der Tinnitus nimmt mit zunehmender Aufmerksamkeit in der subjektiven Lautheit weiter zu, das Leiden wird also immer belastender und die Suche nach neuen, sicheren Therapien immer dringlicher. Dies nennen wir eine abwärts gerichtete Tinnitus-Spirale. Da Sie im Internet bei Eingabe des Begriffs Tinnitus bei "Dr. Google" ca. 20 Mio. Links angeboten bekommen, nimmt die Verwirrung und Verzweiflung hier eher exponentiell zu, denn ab. An dieser Stelle setzt eine seriöse Tinnitus-Therapie zunächst mit Informationen und Aufklärung an, um diese Spirale zu stoppen und das viele Sinnlose von realistischen Bemühungen zu trennen.
Wer glaubt, Tinnitus sei eine Thematik des 20. oder 21. Jahrhunderts, der irrt. Die ältesten Quellen zum Tinnitus datieren aus der Zeit um 1.000 Jahre v. Chr. Auch hat man bereits damals versucht Tinnitus zu behandeln:
„Wenn die Hand des Geistes einen Mann ergreift, und seine Ohren singen, so sollst Du Myrrhe zerreiben, in Wolle einrollen, und mit Zedernblut besprenkeln.“
Daraufhin war ein Zauberspruch aufzusagen. Hippokrates (460-370 v. Chr.) schrieb über die Ursache des Tinnitus, es sei eine krankhafte Störungen der inneren Harmonie und des biologischen Gleichgewichtes des Menschen. Der Begriff Tinnitus kommt aus dem Lateinischen: tinnire bedeutet pfeifen, klingeln.
Zu Zeit der Römer galt Tinnitus als eine Auszeichnung der Götter: die Vorstellung war, dass der Tinnitus eine verschlüsselte göttliche Botschaft darstellte, die der Betroffene nun seinen Mitmenschen offenbaren sollte. Martin Luther vermutete, der Teufel sei der Verantwortliche für seinen Tinnitus, Vincent van Gogh oder Ludwig van Beethoven sind weitere bekannte historische Beispiele. Der bekannteste Arzt des Mittelalters Paracelsus (1493-1541) beschrieb erstmals einen Zusammenhang zu Lärmschäden und Schwerhörigkeit. Heute sind Musiker wie Phil Collins, Campino oder Bono häufig genannte Tinnitus-Betroffene.
Moderne Tinnitus Forschung beginnt mit einer Untersuchung zweier Amerikaner (Heller, Bergman 1953), die zeigen konnten, dass prinzipiell jeder Mensch Tinnitus hat, er aber in der Regel nicht wahrgenommen wird. Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland ca. 3 % der Bevölkerung einen chronischen Tinnitus haben, aber nur die Hälfte dieser Personen (ca. 1,5 Mio.) darunter leidet. Die erste gute Botschaft lautet: diese Forschungsergebnisse und Zahlen zeigen, viele Menschen haben Tinnitus, aber nur wenige leiden darunter. Darüber hinaus verlieren viele Patienten auch ihren Tinnitus wieder ohne jegliche Therapie: in der Akutphase (innerhalb 3 Monaten nach erstmaligem Auftreten) 70-80 %, besteht der Tinnitus länger als 3 Monate (der Arzt spricht dann von chronisch) immerhin noch 15 % pro Jahr.
Die zweite gute Botschaft heißt: Tinnitus kann zwar nervig sein, aber Tinnitus ist keine Krankheit, d. h. er führt zu keinem Schaden (nichts geht kaputt, auch das Hören nicht) und in aller Regel nimmt die subjektive Belastung über die Zeit ab. Wir sprechen in der Medizin von Tinnitus als einem Symptom, d. h. Tinnitus ist ähnlich wie Schmerz ein Zeichen des Körpers, z. B. dass wir aus der Balance geraten sind. Die Ursache hierfür gilt es ärztlicherseits abzuklären.
Tinnitus kann einseitig, beidseitig oder auch mittig im Kopf wahrgenommen werden. Dabei hat die Lokalisation nichts mit dem Ursprung des Geräuschs zu tun: Tinnitus im rechten Ohr bedeutet eben nicht, dass der Tinnitus im rechten Ohr entsteht, sondern nur, dass wir ihn dort wahrnehmen. Neben dem häufigen hochfrequenten Pfeifton im Ohr, über das die meisten Patienten berichten, ist aber auch Brummen, Rauschen, Summen, selten Rattern oder Kreischen möglich.
Dabei kann sowohl die subjektive Lautheit, aber auch das Geräusch wechseln. Es können mehrere Töne auftreten, die teils konstant oder nur zeitweilig vorhanden sind. Abgegrenzt werden muss Tinnitus von Halluzinationen oder Wahnvorstellungen, wenn Patienten z. B. über Stimmen oder Musikstücke im Kopf berichten. Aus Untersuchungen wissen wir, dass der Tinnitus objektiv nicht wirklich laut ist, d. h. auch wenn der Betroffene über einen sehr belastenden lauten Tinnitus berichtet, kann das Geräusch in aller Regel von außen bereits mit geringen Lautstärken überdeckt werden.
In der Regel ist der Tinnitus abhängig von der Hörschwelle, d. h. liegt normales Hörvermögen vor, ist der Tinnitus mit einem Ton/Geräusch von 2 bis 20 dB überdeckbar.
Bei einer Schwerhörigkeit beträgt dann die Schwelle zur Überdeckung: Hörschwelle der Schwerhörigkeit plus 15 dB (z. B. bei mittelgradiger Schwerhörigkeit Hörschwelle 50 dB, Überdeckung mit bis zu 65 dB). In der Regel liegt dabei die Tinnitus-Frequenz im Frequenzbereich des größten Hörverlustes.
Dabei besteht kein Zusammenhang zwischen der Angabe der Überdeckung in dB und der subjektiven Lautheit, die der Patient empfindet: eine Tinnitus-Überdeckung von 2 dB über der Hörschwelle kann genauso unerträglich laut empfunden werden wie von 20 dB. Oder umgekehrt, kann eine Überdeckung von 20 dB vielleicht ohne jede Belastung durch den Patienten beschrieben werden.
Zusammenfassend bedeutet dies, die subjektive Lautheit, die der Patient empfindet, kann durch Hörprüfungen nicht objektiv gemessen werden. Auch hier wieder der Hinweis auf die gute Botschaft: Egal wie laut Sie Ihren Tinnitus wahrnehmen, kann er niemals zu einer Schädigung des Hörvermögens führen.
Die Belastung entsteht durch die Bewertung von Informationen im Gehirn. Wir wissen heute:
Wir unterscheiden körperliche Ursachen von seelischen Ursachen, dabei gelingt nicht selten keine eindeutige Zuordnung. Die bei weitem häufigste körperliche Ursache ist die Schwerhörigkeit, der ihrerseits wieder ganz unterschiedliche Ursachen zu Grunde liegen können. Hintergrund ist, dass der Verlust von Höreindrücken in bestimmten Frequenzen den bei allen Menschen quasi als Grundrauschen vorhandenen Tinnitus nicht mehr überdecken kann. Dies ist auch die Erklärung, warum Menschen, die nichts hören können (Ertaubte, Gehörlose), nicht selten unter Tinnitus leiden. Therapeutisch verspricht die Versorgung mit einem Hörgerät durch die Wiederherstellung von Höreindrücken bei Schwerhörigkeit die erneute Überdeckung des Tinnitus-Geräuschs in der Wahrnehmung. Viele Schwerhörige berichten daher, dass die Nutzung eines gut angepassten Hörgerätes zu einer deutlichen Entlastung ihres Tinnitus geführt habe.
1. Körperliche Ursachen
2. Seelische Ursachen
Die Frage scheint zunächst für viele Patienten einfach: Sie sind überzeugt, dass der Tinnitus für viele weitere Belastungsfaktoren verantwortlich ist, die in der Abbildung aufgeführt sind. Die Pfeilrichtung würde also immer vom Tinnitus weg auf die übrigen Belastungen führen.
Zum Beispiel ist eine häufig geäußerte Klage: "Seit ich den Tinnitus habe, schlafe ich sehr schlecht". Bei Nachfragen stellt sich aber oft heraus, auch vor dem Tinnitus war das Schlafen nicht wirklich gut, d. h. einerseits kann eine Schlafstörung die Belastung durch Tinnitus erhöhen, umgekehrt schlafe ich schlechter, wenn der Tinnitus nachts nervt. Dabei schläft man wegen des Tinnitus schlecht ein, wacht aber nicht nachts wegen des Tinnitus auf, sondern wacht auf und schläft wegen des Tinnitus häufig nicht wieder gut ein. Die Beziehung ist also komplexer als vom Patienten wahrgenommen. Die Wechselwirkung mit dem Tinnitus gilt für alle hier aufgeführten Belastungsfaktoren außer der Schwerhörigkeit: hier wurde bereits erläutert, dass die Schwerhörigkeit den Tinnitus bedingen kann, aber niemals Tinnitus schwerhörig macht. Das bedeutet, dass eine Beeinflussung der Belastungen bezüglich Tinnitus in beide Richtungen der realen Situation näher kommt. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass die Patientenhoffnung oder -erwartung, wenn der Tinnitus beseitigt wäre, würden auch alle anderen Beschwerden verschwinden, unrealistisch ist.
Noch weitergehend gibt es viele Untersuchungen, die nahelegen, dass der Tinnitus ein Stresssymptom unter vielen darstellt. Besser wäre daher, den Stress als Auslöser in den Mittelpunkt zu stellen, der verschiedene Belastungsfaktoren verstärken kann, die dann selbst wieder als Stressoren wirken. Einer dieser körperlichen Symptome wäre dann der Tinnitus.
Darüber hinaus bedürfen auch mögliche soziale Folgen der Tinnitusbelastung der Berücksichtigung im Rahmen einer ambulanten oder stationären Rehabilitation:
Beim ersten Auftreten eines Tinnitus (akuter Tinnitus) ist Ihr HNO – Arzt erster Ansprechpartner. Er untersucht die Ohren, das gesamte Gehör und weitere Organe. Im Gespräch erhebt er die bisherige Krankheitsgeschichte. Er fragt nach dem Beginn, nach eventuellen Auslösern wie etwa Lärmbelastung oder Stress und nach Vorerkrankungen. Er wird Sie zudem die Ohrgeräusche genau beschreiben lassen. Folgende Untersuchungen werden in der Regel durchgeführt:
Bei chronischem Tinnitus (länger als 3 Monate) empfehlen wir die einmalige Durchführung einer Computertomographie oder Kernspintomographie des Kleinhirnbrückenwinkels zum sicheren Ausschluss eines Akustikusschwannoms.
Ausführlichen Aufschluss über den aktuellen Stand der Therapieempfehlungen gibt die 2015 veröffentlichte S3-Leitlinie "chronischer Tinnitus" der Deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. Darüber hinaus wurde in Zusammenarbeit mehrerer europäischer Tinnitus-Forschungsgruppen eine erste Europäische Tinnitus-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie erarbeitet, die im März 2019 veröffentlicht wurde:.
Trotz aller Leitlinien muss eine Therapie auch immer die individuellen Bedürfnisse des Einzelnen berücksichtigen.
Tritt ein Tinnitus neu auf, sollte innerhalb von 5 Werktagen der Arzt (optimal der HNO-Facharzt) aufgesucht werden. Der Arzt wird dann die oben angeführten Untersuchungen veranlassen und Sie zum weiteren Vorgehen beraten. Zu unterscheiden sind grundsätzlich zwei wesentliche Situationen:
Chronische Tinnitus-Betroffene sollten unbedingt von Tinnitus-Patienten unterschieden werden:
Bei Tinnitus-Betroffenen geht es in erster Linie um die Durchführung der o. g. Diagnostik zum Ausschluss einer körperlichen oder seelischen Ursache, umfangreiche Informationen rund um das Thema Tinnitus sowie den Abbau von Angst und Unsicherheit. Eine spezifische Therapie ist oft weder erforderlich noch sinnvoll.
Für Menschen, die deutlich durch den Tinnitus und eine eingeschränkte Lebensqualität beeinträchtigt sind, hat sich ein multimodales Therapiekonzept bewährt. Dabei sollte bereits zu Beginn kommuniziert werden, dass die nachvollziehbare Hoffnung oder Erwartung des Patienten auf eine Heilung vom Tinnitus durch keinerlei therapeutische Interventionen realistisch in Aussicht gestellt werden kann. Der erste und wichtigste Schritt auf dem Weg zu einer verbesserten Tinnitus-Akzeptanz ist daher die Vereinbarung eines erreichbaren Therapieziels: der Tinnitus-Patient soll durch Erfahrungen in unterschiedliche Therapiebereichen für sich eine Möglichkeit erarbeiten, mit Tinnitus und den Folgesymptomen besser umgehen zu können.
Grundsätzlich sollte immer versucht werden, zunächst über ambulante Therapie-Angebote zu einer verbesserten Tinnitus Akzeptanz zu gelangen. Meist kommen hier zunächst einzelne Therapiebausteine (z. B. Erlernen eines Entspannungstrainings, Bewegung, Anleitung zu Stress-Abbau) zur Anwendung. Erst wenn die ambulante Therapie keinen Erfolg gebracht hat, kommt eine stationäre Reha in Betracht.
Zusammenfassend haben sich in der stationären Rehabilitation folgende Therapiebausteine in einem multimodalen Konzept bewährt und werden auch in den genannten Leitlinien empfohlen (Kommentar: englisch "recommendation" = Empfehlung):
Fazit - Bei allen guten und richtigen Therapiekonzepten muss Ihnen klar sein:
Patienten mit Tinnitus hören Ohrgeräusche wie etwa Pfeifen, Rauschen oder Summen. Die Störung ist nicht als gefährlich einzustufen. Für manche Menschen bedeutet jedoch ein chronisch gewordener Tinnitus eine deutliche Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität. In etwa 70 % der Fälle löst sich der Tinnitus von selbst wieder auf.
Zum Fachtext über TinnitusIn der aktuell veröffentlichten Europäischen Leitlinie Tinnitus (März 2019) wird zu vielen solcher "guten" Ratschlägen aus angeblichen Fachkreisen, von Familienangehörigen, Freunden, Kollegen oder aus dem Internet Stellung bezogen. Hier ein Überblick:
Ein Beispiel: Tante Herta ruft an und teilt Ihnen mit, dass Sie in der Illustrierten beim Friseur einen Artikel gelesen habe, dass neuste Forschungsergebnisse aus den USA belegen, dass durch Akupunktur selbst ein lange bestehender und belastender Tinnitus beseitigt werden könne. Und da habe sie natürlich sofort an Sie gedacht. Da sollten Sie jetzt aber ganz schnell einen Termin machen.
Sie haben schon so viel wegen des Tinnitus unternommen, aber bisher nicht das Richtige gefunden und keiner konnte helfen. Akupunktur denken Sie, der HNO-Arzt hat zwar gesagt, dass bringe nichts, aber vielleicht kennt der diese neuen amerikanischen Studien noch nicht.
Endlich scheint das Ziel, den Tinnitus los zu werden, doch wieder in greifbarer Nähe. Im Internet machen Sie sich schlau und finden mehrere Therapeuten, die Akupunktur bei Tinnitus anbieten, aber leider alle über 300 km entfernt von Ihrem Wohnort und günstig ist die Behandlung auch nicht. Aber was nichts kostet, taugt nichts und was bedeuten 1.000 € zuzüglich Fahrt, wenn davon der Tinnitus verschwindet. Der Therapeut hat leider erst in einem halben Jahr einen Termin - spricht aber dafür, dass der gut ist und viele Leute können nicht irren.
Endlich ist es soweit. Sie nehmen 3 Tage Urlaub und los geht's. Tolle, moderne Praxis, nette Helferinnen, toller Service (es gibt einen Latte macchiato). Leider hat der Therapeut nicht viel Zeit. Klar bei der Nachfrage, schwärmt aber von vielen zufriedenen Patienten. Nach Unterschrift unter Aufklärungsbogen ("leider klappt's nicht immer") und 10 Seiten Datenschutzaufklärung erfolgt die Akupunkturbehandlung. Sie fühlen sich gleich viel besser, der Tinnitus ist schon viel leiser.
Am Montag bei der Arbeit ärgert Sie der Chef und der Tinnitus feiert ein Comeback. Sie haben den Eindruck der Bursche ist lauter als jemals zuvor. Es ist wirklich zum Verrücktwerden. Was sollen Sie denn noch tun? Heute Abend werde ich noch einmal im Internet recherchieren.
Viele Patienten sind bereit, sich auch gegen jede Vernunft und jeden seriösen Ratschlag immer wieder auf obskure Therapieversprechungen einzulassen. In einer amerikanischen Studie wurden 20.000 bis 30.000.-$ genannt, die Patienten im Schnitt ausgaben, um den Tinnitus los zu werden. Lassen Sie es mich klar formulieren:
Wer Ihnen verspricht, Ihren Tinnitus beseitigen zu können, ist nicht an Ihrem Tinnitus, sondern ausschließlich an Ihrem Portemonnaie interessiert!
Aber wenn Sie - vielleicht schmerzvoll - lernen mussten, dass es die einfache Lösung mit Tabletten, Infusionen, Sauerstoff, Akupunktur oder Musik nicht gibt, droht zusätzlicher Frust. In unserem Beispiel teilen Sie Tante Herta mit, dass Ihr Vorschlag lieb gemeint, aber nicht erfolgversprechend sei. Die alte Dame ist daraufhin echt sauer und sagt, wenn Sie nichts machen wollten, dann seien Sie doch selbst an Ihrem Tinnitusleiden schuld. In Zukunft will sie darüber dann auch keine Klagen mehr von Ihnen hören.
Folgend eine schematische Darstellung der abwärts gerichteten "Tinnitus-Spirale":
Grundsätzlich gilt, dass ambulante Möglichkeiten vor der Einleitung einer stationären Reha ausgeschöpft sein sollen.
Für eine ambulante Rehabilitation spricht:
Für eine stationäre Rehabilitation spricht:
Grundsätzlich gilt: Ohne IHRE Umsetzung von den in der Reha erlernten Veränderungen im Alltag wird keine Verbesserung Ihrer Belastungen erreichbar sein können!
Zunächst liegt dies in Ihrer Verantwortung, aber die Rahmenbedingungen für eine weitere Anleitung und Unterstützung haben sich dafür aktuell verbessert, da die Sensibilität für die Notwendigkeit einer Überleitung in ambulante Therapiemodule von allen Seiten deutlich zugenommen hat. So haben die Rentenversicherungsträger aktuell 2019 neue Strukturen für ihre Nachsorge-Konzepte (z. B. T- RENA, IRENA, Psy-RENA) geschaffen, die eine sinnvolle Ergänzung stationär eingeleiteter Therapie-Prozesse darstellen.
Als Zukunftsoption wäre die Einführung von Auffrischungsprogrammen nach einer Rehabilitation überlegenswert, z. B. nach einem oder zwei Jahren, um die Motivation für Veränderungen und den erzielten Therapieerfolg abzufragen und zu stabilisieren. Auch eine Vernetzung von ambulanten und stationären Rehaangeboten hat sicher an einigen lokalen Schwerpunkten begonnen, ist aber noch weit von der Regellösung entfernt.
Anspruch auf eine ambulante und/oder stationäre Rehabilitation hat grundsätzlich jeder. Reichen Maßnahmen der ambulanten Rehabilitation nicht aus, um die gesundheitlichen Ziele zu erreichen, kann eine stationäre Rehabilitation bewilligt werden (§ 40 SGB V, § 9 SGB VI). Grundsätzlich gilt medizinisch immer die Prämisse: Ambulante vor stationärer Therapie! Ein akuter Tinnitus (innerhalb der ersten drei Monate nach dem ersten Auftreten) wird nur unter ganz besonderen Bedingungen und als absolute Ausnahme Grund für eine stationäre Rehabilitation sein können.
Anhand der Zahlen über den chronischen Tinnitus soll deutlich gemacht werden, wie sich die Gewichtung zwischen ambulanten und stationären Maßnahmen darstellt:
In Deutschland geht man nach der Untersuchung der DTL (Deutsche Tinnitus-Liga e. V.) von ca. 3 Millionen Menschen mit einem chronischen Tinnitus aus. Nur die Hälfte davon gibt an, unter dem Tinnitus oder Auswirkungen des Tinnitus zu leiden. Selbstverständlich ist nur für diese 1,5 Millionen Patienten eine Therapie überhaupt sinnvoll. Bei der großen Mehrheit dieser Patienten reichen ambulante ärztliche und/oder psychologische Therapieverfahren aus, um eine Stabilisierung der persönlichen Situation zu erreichen. Nur bei einer kleinen Gruppe von Patienten, denen ambulant nicht hinreichend geholfen werden kann, sind stationäre Rehabilitationen notwendig.
Verlässliche Daten über die Zahl stationärer Rehabilitationen bei chronischem Tinnitus liegen nicht vor. Aufgrund von Daten der DRV Bund und eigenen Schätzungen dürfte die Zahl von 5.000-6.000 stationären Tinnitus-Reha-Patienten pro Jahr in Deutschland aber nicht überschritten werden.
Die Leistungen zur stationären Rehabilitation sollen für einen Zeitraum von längstens drei Wochen, können aber auch für einen längeren Zeitraum bewilligt werden, wenn dies erforderlich ist, um das Rehabilitationsziel zu erreichen (§ 15 Abs. 3 SGB VI, § 40 Abs. 3 SGB V). Das heißt, die Dauer der medizinischen Rehabilitation wird durch die Indikation und den Therapiefortschritt während der Maßnahme wesentlich bestimmt. Wird eine stationäre Rehabilitation bei Tinnitus bewilligt, so sind viele Kostenträger dazu übergegangen, einen 4- bis 5-wöchigen Aufenthalt zu genehmigen. Verlängerungen werden anhand Ihrer gesundheitlichen Situation mit Ihnen als Betroffenem vereinbart und müssen durch den Kostenträger genehmigt werden. Rechnen Sie aber orientierend eher mit einem 4- als 3-wöchigen Aufenthalt.
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation werden nicht vor Ablauf von vier Jahren solcher oder ähnlicher Leistungen zur Rehabilitation erbracht, es sei denn, eine vorzeitige Leistung ist aus medizinischen Gründen dringend erforderlich (§ 12 Abs. 2 SGB VI, § 40 Abs. 3 SGB V).
Dieser Punkt führt immer wieder zu Missverständnissen und berechtigter Kritik. Niemand bekommt eine Rehabilitation unabhängig von der medizinischen Notwendigkeit nach vier Jahren vom Kostenträger bewilligt, nur weil dieser vorgegebene Zeitraum vorbei ist. Eine Rehabilitation wird nach berechtigterweise strengen Kriterien immer von der medizinischen Notwendigkeit abhängig gemacht. Ist diese medizinische Indikation gegeben, ist aber auch nach der Gesetzeslage unabhängig von bestimmten Zeitintervallen immer eine Rehabilitation zu gewähren.
Grundsätzlich gilt daher: eine Rehabilitation wird nach medizinischer Indikation bei entsprechender Dringlichkeit unabhängig von Zeitintervallen bewilligt.
Vereinfachend gilt folgende Faustregel :
Wie bei allen Bestimmungen gibt es eine Reihe von Ausnahmen und Sonderregelungen, so ist z. B. die gesetzliche Unfallversicherung (Berufsgenossenschaft) Träger der Rehabilitation bei allen Folgen von Berufsunfällen.
Aktuell beträgt der Eigenanteil des Rehabilitanden 10.- € pro Tag für eine Rehabilitationsdauer von maximal 42 Tagen. Arbeitslose, Sozialhilfe-Empfänger und Personen ohne Einkommen sind von der Zuzahlung freigestellt. Patienten mit geringem Einkommen können sich befreien lassen, fragen Sie hier bei den Servicestellen nach.
Mit der Einführung des Sozialgesetzbuches IX (SGB IX) ist das Verfahren wesentlich patientenfreundlicher gestaltet worden. So wurden in allen Landkreisen und kreisfreien Städten sogenannte gemeinsame „Servicestellen“ eingerichtet, in denen alle Träger von Rehabilitationsleistungen (gesetzliche Krankenversicherung, Rentenversicherung, Berufsgenossenschaften) den Antragsteller gemeinsam beraten.
Hier können Sie alles über
Am besten erkundigen Sie sich direkt bei Ihrer Krankenkasse nach der Anschrift dieser Servicestelle in der Nähe Ihres Wohnortes. Aber auch in anderen praktischen Bereichen wurden die Patientenrechte gestärkt: die Kostenträger prüfen bei einem Antrag zunächst die medizinische Notwendigkeit. Ist diese festgestellt, müssen die Kostenträger sich untereinander verständigen, wer für die Kosten zuständig ist. Früher führte dies nicht selten zu einem langen Streit zwischen Rentenversicherung und Krankenkasse, der Patient konnte die notwendige Rehabilitation aber nicht antreten. Heute wird die Maßnahme bewilligt und kann begonnen werden, die Kostenträger müssen sich dann untereinander verständigen.
Auch bei der Bearbeitungsfrist gibt es heute klare Vorgaben: Über einen Antrag auf Rehabilitation muss innerhalb einer Frist von längstens fünf Wochen entschieden sein. Damit besteht innerhalb einer überschaubaren Zeit für alle Beteiligten Klarheit.
Auch wurde das Wunsch- und Wahlrecht des Patienten für die Auswahl der Klinik deutlich gestärkt. In der Regel wird der zuständige Kostenträger versuchen, Ihrem Klinikwunsch zu entsprechen. Daher empfehlen wir Ihnen: Machen Sie von dem Ihnen gesetzlich eingeräumten Wunsch- und Wahlrecht gemäß § 8 SGB IX Gebrauch und geben Sie und auch Ihr behandelnder Arzt bei Antragstellung eine oder mehrere medizinisch geeignete Wunschkliniken an.
Der wichtigste und entscheidendste Punkt für die Erfolgsaussichten Ihres Reha-Antrages ist das ärztliche Attest. Deshalb sollten Sie mit Ihrem Arzt darauf achten, dass einige wichtige Punkte für die Prüfung beim Kostenträger klar erkennbar sind:
Vorschlag: Für 15,00 € erhalten Sie den Klinik-Wegweiser der Deutschen Tinnitus Liga. Hier finden Sie zwei „Musteranträge“, die Ihnen und Ihrem Arzt eine Orientierung sein können, aber nie Ihre individuelle Situation berücksichtigen können. Ihre Chancen sind dann am Größten, wenn Sie dem Gutachter bei der Krankenkasse oder der Rentenversicherungsträger Ihre individuelle Belastung durch den chronischen Tinnitus und die bisher nicht ausreichende Bewältigung verdeutlichen können. Dies gelingt, wenn Sie die wichtigen Informationen dieses „Musterantrages“ mit Ihrer persönlichen Situation verbinden.
Leider werden erste Anträge manchmal von den Kostenträgern zunächst abgelehnt. Zögern Sie daher nicht, Widerspruch einzulegen, wenn Sie und Ihr Arzt von der Notwendigkeit einer stationären Rehabilitation überzeugt sind. Sollte auch der Widerspruch abgelehnt werden, was erfahrungsgemäß deutlich seltener ist, können Sie auch dagegen Widerspruch einlegen. Hier ist zu empfehlen, sich Unterstützung, z. B. durch den VDK oder die Selbsthilfe-Organisationen einzuholen.