Als Polyneuropathien bezeichnen Ärzte systemisch bedingte Schädigungen mehrerer peripherer Nerven, die zu Missempfindungen, Sensibilitätsstörungen und Schmerzen in den Versorgungsgebieten der betroffenen Nerven führen.
Das periphere Nervensystem (PNS) umfasst aus anatomischer Sicht jenen Teil der Nerven, der nicht zum zentralen Nervensystem (ZNS) gehört - also nicht innerhalb des Schädels oder des Wirbelkanals liegt. Die Nerven des PNS sind allerdings funktionell mit dem zentralen Nervensystem verbunden. Sie leiten Impulse aus dem Gehirn und Rückenmark an die zu versorgenden Organe und Gewebe weiter und sorgen damit für eine physiologische Reaktion an den Zielorganen. Darüber hinaus leiten sie Informationen von zahlreichen Sensoren im Körper an das Gehirn zurück und ermöglicht damit die Körperwahrnehmung.
Das periphere Nervensystem besteht aus zwei unterschiedlichen Anteilen: Das somatische (willkürliche) Nervensystem ist für die Ausführung willkürlicher Bewegungen und für Reflexe zuständig. In umgekehrter Richtung übermittelt es Informationen zu Wahrnehmung, Schmerz, Temperatur, … Das autonome (vegetative, unwillkürliche) Nervensystem (ANS) steuert dagegen lebenswichtige Funktionen wie Atmung, Stoffwechsel und Verdauung.
Bei den meisten Polyneuropathien sind Nerven des willkürlichen Nervensystems betroffen. Vor allem in Armen und Beinen treten Empfindungsstörungen auf, die sogenannte Sensibilität ist eingeschränkt.
In einem späteren Stadium der Erkrankung entwickeln Betroffene oft Schwierigkeiten, bestimmte willentlich gesteuerte Muskelgruppen unter Kontrolle zu halten: es kommt zu Muskelzucken, Krämpfen, Bewegungsunruhe und oft auch zu Schmerzen im Bereich der geschädigten Nerven.
In der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) der Weltgesundheitsorganisation hat die Polyneuropathie den ICD-Code G62.
Für die Polyneuropathie sind zwei besonders häufige Auslöser bekannt: Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) und chronischer Alkoholmissbrauch.
Viel seltener kommen auch hormonelle, verletzungsbedingte, infektiöse sowie durch Nährstoffmangel, toxische Substanzen oder innere Erkrankungen verursachte Nervenschädigungen als Ursache einer Neuropathie vor.
Auch Tumorkrankheiten
führen manchmal dazu, dass periphere Nerven geschädigt werden. Eine weitere wichtige Sonderform der Polyneuropathie ist eine Schädigung durch das eigene Immunsystem (autoimmune Ursache) z. B. bei langwierigen intensivmedizinischen Behandlungen (Critical-illness-Polyneuropathie). Insgesamt sind mehr als 200 Auslöser für Erkrankungen aus dem neuropathischen Formenkreis bekannt. Es ist allerdings bei vielen Betroffenen nicht möglich, eine konkrete Ursache für ihre Krankheit festzustellen.
Polyneuropathien lassen sich grundsätzlich danach unterscheiden, ob sie im Laufe des Lebens erworben wurden oder bereits angeboren waren.
Die erworbene Polyneuropathie ist mit Abstand die häufigere Form der Erkrankung - sie entwickelt sich als Folge einer anderen Erkrankung oder durch einen externen Auslöser. Diabetiker sind besonders gefährdet, an einer erworbenen Polyneuropathie zu erkranken. Das liegt daran, dass es bei länger bestehender und/oder schlecht eingestellter Zuckerkrankheit zu Schädigungen der kleinsten Gefäße kommt, die die peripheren Nerven versorgen. Diese sogenannten Mikroangiopathien führen in der Folge unter anderem zu einer Mangelversorgung des Nervengewebes mit Nährstoffen, es lagern sich Stoffwechselendprodukte ab, die Funktionsverluste verursachen.
Diese sogenannte diabetische Polyneuropathie beginnt oft in den Zehen und Füßen und ist durch und ein herabgesetztes Schmerz- und Temperaturgefühl gekennzeichnet. Im Unterschied zu den meisten anderen Formen der Polyneuropathie ist bei Menschen mit Diabetes oft auch das vegetative Nervensystem betroffen – man spricht dann auch von einer autonomen Neuropathie.
Die zweite häufige Form der erworbenen Polyneuropathie ist die alkoholische Polyneuropathie oder alkoholbedingte Neuropathie. Dabei kommt es durch die neurotoxischen (nervenschädigenden) Wirkungen chronischen Alkoholkonsums zu funktionellen Beeinträchtigungen der peripheren Nerven. Die alkoholische Polyneuropathie ist durch ein verstärktes Schmerzempfinden charakterisiert: Betroffenen nehmen schon kleinste Reize als schmerzhaft wahr, tatsächliche Schmerzreize empfinden sie viel stärker als Gesunde.
Eine dritte erworbene Polyneuropathie ist die Critical-illness-Polyneuropathie, wo der Körper als Fehlleitung des Immunsystems die Nerven des peripheren Nervensystems schädigt. Dies tritt z. B. im Rahmen langwieriger intensivmedizinischer Behandlungen auf und äußert sich vor allem in schwindender Kraft und Muskelmasse in der Extremitäten- und Rumpfmuskulatur. In schwerwiegenden Formen können weitgehende Bewegungsunfähigkeit und Schluckstörungen resultieren. Mit Beendigung der intensivmedizinischen Behandlung bessert sich der Befund meist wieder, was durch intensive therapeutische Behandlungen gefördert werden kann. Die Critical-illness-Polyne
Angeborene Polyneuropathien sind dagegen relativ selten. Ihnen liegen vererbbare Krankheiten wie Enzymdefekte, veränderte Proteine oder eine eingeschränkte Nervenleitgeschwindigkeit zugrunde. Sie unterscheiden sich aus diesem Grund meist auch in der Symptomatik von den erworbenen Polyneuropathien. Bei manchen Erkrankungen tritt die Polyneuropathie auch als Begleiterscheinung des eigentlichen Krankheitsbildes auf, so zum Beispiel bei der akuten intermittierenden Porphyrie.
Zu Beginn der Krankheit nehmen Patienten in Fingern, Händen, Zehen und Füßen ein Kribbeln oder Taubheitsgefühle wahr. Oft werden diese Symptome von Schmerzen oder Krämpfen begleitet. Bei manchen Betroffenen sind auch Muskelkraft und Muskelfunktion beeinträchtigt – zum Beispiel fallen Gegenstände aus der Hand oder es entsteht ein unwillkürliches Bewegungsmuster der Beine (Restless-Legs-Syndrom).
Im Verlauf der Erkrankung kommt es ohne Behandlung zur Verschlimmerung der Symptomatik, vor allem des Schmerzempfindens. Weitere Störungen, die häufig auftreten, sind:
Ist auch das vegetative Nervensystem betroffen, kann es zusätzlich zu folgenden Beschwerden kommen:
Die Diagnostik der Krankheit erfordert einige Erfahrung. Bei Verdacht auf eine Polyneuropathie wenden Sie sich daher am besten an einen Facharzt für Neurologie oder an eine neurologische Ambulanz.
Der behandelnde Arzt wird Sie zunächst zu Ihrer medizinischen Vorgeschichte und der Intensität und Dauer der Beschwerden befragen, um Hinweise auf mögliche Ursachen zu finden. Im Anschluss an dieses Anamnesegespräch finden neben einer gründlichen klinischen Untersuchung spezielle Tests statt, die Hinweise auf das Vorliegen der Krankheit geben:
Gegebenenfalls wird der Neurologe auch untersuchen, ob eine schwere Nierenerkrankung vorliegt, die ebenfalls als Verursacher einer Polyneuropathie in Frage kommt. Ein Nährstoffmangel, vor allem ein Mangel an den Vitaminen B12 und B1, B3, B6, Folsäure und Vitamin E, lässt sich durch spezialisierte labormedizinische Testverfahren feststellen.
Die Therapie der Polyneuropathie richtet sich nach der festgestellten Ursache und nach dem Beschwerdebild. Gegen die Schmerzsymptomatik werden Pregabalin oder Gabapentin sowie alternativ Duloxetin oder Amitriptylin eingesetzt. Diese Medikamente modifizieren die Schmerzwahrnehmung auf unterschiedlichen Wegen und haben sich als effektiver gegenüber klassischen Schmerztabletten erwiesen. Hierzu bedarf es der Unterstützung eines erfahrenen Neurologen oder Schmerztherapeuten. Als Ergänzung eignet sich die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), bei der der Einsatz elektrischer Impulse unterschiedlicher Frequenzen zur Reduktion des Schmerzempfindens führt.
Zur Behandlung der diabetischen Polyneuropathie eignet sich vor allem die Gabe von Alpha-Liponsäure und Vitamin B1, alkoholische Polyneuropathien sprechen ebenfalls gut auf eine Vitamin B1-Substitution an.
Bei alkoholischen Polyneuropathien sollte der Alkoholkonsum möglichst eingestellt werden.
Als Möglichkeit der Selbsthilfe haben sich für viele Betroffene gesunde, ausgeglichene Ernährung, Sport und physiotherapeutische Übungen bewährt.
Die Frage, ob eine Heilung der Polyneuropathie möglich ist, lässt sich leider nicht eindeutig beantworten. Sie hängt unter anderem vom Zeitpunkt der Diagnose, der zugrundeliegenden Erkrankung und dem Ausmaß der bereits bestehenden Nervenschädigung ab. Auch wenn eine vollständige Heilung nicht möglich ist, ist mit der passenden Medikation und entsprechender therapeutischer Unterstützung ein großteils beschwerdefreies Leben für die meisten Patienten erreichbar.
Wenn bisherige Behandlungen nicht zur gewünschten Beschwerdefreiheit geführt haben, ist ein Reha-Aufenthalt eine sinnvolle therapeutische Ergänzung. Physiotherapeutische und physikalische Maßnahmen sind als langfristige Behandlungen am effektivsten. Im Rahmen eines Reha-Aufenthaltes gelingt es daher leichter, Gang- und Gleichgewichtsstörungen auszugleichen, Schmerzen zu reduzieren und die Ursachen der Erkrankung zu therapieren.
Man kann eine Polyneuropathie vermuten, wenn sich das Gefühl in den Füßen beim Sockenanziehen verringert oder wenn eine Gangunsicherheit auftritt, ohne dass eine andere Erkrankung als Ursache in Frage kommt. Häufig berichten Betroffene auch über Schmerzen in den Beinen, die unabhängig von körperlicher Belastung auftreten, sowie über eine erhöhte Unsicherheit beim Gehen im Dunkeln.
Um die Symptome einer Polyneuropathie zu lindern, ist regelmäßige Bewegung sehr wichtig. Bei einer durch Alkohol verursachten Polyneuropathie sollte auf Alkohol verzichtet werden, um eine Verschlimmerung zu verhindern. Eine kausale Behandlung der Polyneuropathie ist oft nicht möglich, daher konzentriert sich die Therapie vorwiegend auf die Linderung der Symptome und die Vermeidung weiterer Nervenschäden.
Polyneuropathien beeinflussen für gewöhnlich die Lebenserwartung nicht direkt, jedoch kann die Lebensqualität durch Symptome wie Schmerzen, verminderte Mobilität und die damit verbundene erhöhte Sturzgefahr eingeschränkt sein. In seltenen Fällen können schwere Folgeerkrankungen wie häufige Stürze oder hochgradige Immobilität potenziell lebensverkürzend wirken.
Die effektivsten Maßnahmen gegen Polyneuropathie sind regelmäßige Bewegung oder Physiotherapie, eine ausgewogene Ernährung und gegebenenfalls die Substitution von Vitaminen. Diese Ansätze helfen, die Symptome zu managen und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern, indem sie weiteren Nervenschäden vorbeugen und die körperliche Funktion unterstützen.
Chefarzt der Klinik für neurologische und neurochirurgische Rehabilitation
VAMED Klinik Hagen-Ambrock in Hagen